Arlesheim im Juni
In unsicheren Zeiten spielen bestimmte Fähigkeiten des Menschen eine grössere Rolle als sonst: Wer keinen Schiffbruch erleiden will, muss durch unbekanntes und gefährliches Gewässer navigieren können. Zuversicht und Vorsicht, Mut und Misstrauen, Tatkraft und Geduld sollten gut ausbalanciert sein. Man muss einen langen Atem und ein grösseres Ziel vor Augen haben, um nach Rückschlägen immer wieder aufstehen zu können.
Homer setzte in der Antike diesem Typus Mensch vor rund 2800 Jahren mit dem Odysseus ein Denkmal, das bis heute nichts von seiner Eindringlichkeit verloren hat. Seine zehnjährige Irrfahrt, seine Entdeckungen fremder Menschen und Länder, seine Begegnungen mit Göttern und Dämonen sind auch für uns noch spannend und gültig. Er war und ist ein Vorbild, ein Held mit Ecken und Kanten, der Fehler macht ohne dabei seine Würde und Selbstachtung zu verlieren.
Odysseus war zu seiner Zeit ein Pionier und markierte eine Zeitenwende. Troja wurde nicht durch Kraft oder Übermacht sondern durch den Verstand besiegt. Das Trojanische Pferd war seine Erfindung, die sich in der digitalen Welt von heute vielfältiger Nachahmung erfreut. Er nutzte seine Gedankenkraft in einer Epoche, in der üblicherweise Priester und Orakel die Richtung vorgaben. Er respektierte die Götter und hatte Umgang mit Ihnen. Athene war seine helfende Muse, mit der Göttin Circe zeugt er Kinder. Aber bei Ihm waren Denken und Fühlen nicht getrennt, er hatte die Gewissheit einer göttlichen Welt und liebte die Irdische.
Odysseus schwamm gegen den Strom seiner Zeit. Er kann uns ermutigen, unserem eigenen Denken und Fühlen zu trauen. Falsche Propheten, Fake News, Auseinandersetzungen um das Virus und die Massnahmen, die immer wieder den Charakter von Glaubenskriegen annehmen; wer sich nicht selbst ein Urteil bilden kann und gleichzeitig die Grenzen der eigenen Urteilsfähigkeit anerkennt, kann nur mit dem Strom schwimmen.
In der Dramatisierung von Andrea Pfaehler gewinnen die Gestalten der Odyssee an Lebendigkeit und Präsenz. Der epische Bilderbogen wird zu einem dramatischen Geschehen voller Konflikten und überraschenden Wendungen. Die Straffung des Stoffes bewirkt dabei eine Hervorhebung der Charaktere und ihrer Beziehungen. Griechische Menschen und Götter werden gegenwärtig und zu Zeitgenossen.
Das Ensemble der Jungen Bühne Dornach ist im Stück «Noch einmal davongekommen» nach Thornton Wilder über sich hinausgewachsen.
VON: THOMAS BRUNNSCHWEILER
Nach der Premiere brach das Publikum im Grundsteinsaal des Goetheanums in lang anhaltenden Applaus aus. Jeder im Saal fühlte sich von Thornton Wilders Drama, eines der meistgespielten Stücke der Nachkriegszeit, angesprochen. Als das Stück «Wir sind noch einmal davongekommen» 1942 Premiere hatte, liefen nach dem ersten Akt viele Zuschauer aus dem Theater. Für die USA war das unorthodoxe epische Comedy-Drama starker Tobak. Es brach mit allen etablierten Konventionen. Die Junge Bühne zeigt, dass Wilders Welttheater noch nie so aktuell war wie heute.
Ein modernes Welttheater
Die Tragikomödie spielt während der Eiszeit, der Sintflut und in der damaligen Gegenwart. In den drei Akten lösen sich die Grenzen von Raum und Zeit auf. Das Stück ist als Theaterprobe angelegt.
Die Truppe spielt eine Durchschnittsfamilie: Mr. und Mrs. Androbus, Sohn Henry, Tochter Gladys und das Hausmädchen Sabina. Hinter dieser zweiten Ebene repräsentiert die Familie die Menschheit. George Androbus ist Adam, der Abkömmling der roten Ackererde (Adamah); Mrs. Androbus ist Eva oder Chava (Leben, Belebte); Henry ist der Brudermörder Kain. Gladys ist Lilith, ein weiblicher Dämon, der dem Teufel widersteht und sich als Frau emanzipiert. Sabina verkörpert den Typus des unemanzipierten Weibes. Die Familie durchlebt drei existenzielle Katastrophen, aber Mr. Androbus – griechisch Anthropos: Mensch – hört nie auf, an die Zukunft der Menschheit zu glauben. Im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Autoren war Thornton Wilder Optimist.
Textfassung und Regie überzeugen
Das Drama bedient sich vieler Techniken: Radio, Film, Musical. Einmal ist der Text humorvoller dahinplätschernder Smalltalk, dann wieder ernsthafte Erörterung. Das Stück hat absurde Züge, ohne absurdes Theater zu sein. Die Theaterillusion wird immer wieder durch Einwände und Proteste unterbrochen. Eine Schauspielerin holt ein Mädchen aus dem Publikum, das auf der Bühne auf Schweizerdeutsch seinen Weltschmerz ausbreitet. Diese Szene gehört zu den zehn Prozent des Textes, die nicht von Wilder stammen. Textfassung und Regie von Andrea Pfaehler überzeugen durchweg.
Grossartige Ensembleleistung
Es wäre ungerecht, Einzelne hervorzuheben, weil das Ensemble durchgehend sein Bestes gibt. Im dritten Akt wird eine vierte Ebene eingezogen: die psychoanalytische. Der Schauspieler, der den zerstörerischen einsamen Wolf Henry spielt, bricht aus der Rolle aus, weil er sich selbst von seinem Vater traumatisiert erlebt. Es ist der Showdown des Vater-Sohn-Konflikts, der schliesslich zur Versöhnung führt. Die Rolle hilft hier den Schauspielern, und die Schauspieler der Rolle auf die Sprünge. Lukas Hayoz spielt Henry so authentisch, dass dem Publikum angst und bange wird, ob jetzt Hayoz oder Henry ausrastet. «Sie können nach Hause gehen, wir werden ewig weiterspielen», dies ist die Botschaft des brandaktuellen Stücks. Zu erwähnen ist auch das hervorragend gestaltete Programmheft.
DORNACH
04.09.2019
Neckisches Versteckspiel: Was Helena (Anna Sarah Waterstradt) wohl vor hat? Foto:ZVG/ Laura Pfaehler
Die Junge Bühne Dornach feierte mit «Shakespeare’s Night» am letzten Freitag auf der kleinen Bühne des Goetheanums Premiere. Die Stückcollage von Andrea Pfaehler erntete frenetischen Applaus.
THOMAS BRUNNSCHWEILER
Wer sich Peter Zadeks skandalumwitterter Inszenierung von «Othello» im Jahre 1976 entsinnen kann, erinnert sich an eine flachgewalzte Handlung und die unsäglich schludrige Aussprache des herumfläzenden Bühnenpersonals. Dagegen ist die beinahe klassisch anmutende Stückcollage «Shakespeare’s Night», von Andrea Pfaehler geschrieben und inszeniert, eine wahre Wohltat. Die jugendlichen Schauspielerinnen und Schauspieler haben eine gepflegte Ausdrucksweise und sprechen fast immer direkt zum Publikum. Vor allem bringen sie im Tanz, beim Singen oder auch Fechten ihre weiteren Fähigkeiten zur Geltung. Wie immer umwerfend sind die Ton in Ton gehaltenen, sorgfältig durchgestalteten Kostüme. Das Bühnenbild ist einfach, aber effektiv und kann in seinem Charakter mit Licht- und Nebeleffekten fast beliebig verändert werden. Die von einer Musikgruppe um Ivan Simonicini gespielte Begleitmusik unterstreicht das Geschehen so, dass sich die Klänge nie in den Vordergrund drängen.
Ein anspruchsvolles Experiment
Andrea Pfaehler hat einen Kunstgriff gewagt, der in die Post-Postmoderne passt. Sie hat «Macbeth», «Viel Lärm um nichts», «Romeo und Julia» und «Ein Sommernachtstraum» collagiert. Einige der 1200 Bühnengestalten Shakespeare’s finden sich im Königsschloss zu einem «Familientreffen» ein. Alle sind sie selbst, verfolgen ihre Ziele und Wünsche. Die Zuschauer, die alle vier Stücke bereits kennen, sind anfänglich irritiert. Für die Shakespeare-Neulinge aber wirkt die Collage von Anfang an plausibel. So ist gerade für Kinder und Jugendliche «Shakespeare’s Night» nicht nur Unterhaltung, sondern zugleich Einführung in die Dialogkunst des grossen Dramatikers. Man könnte bemängeln, der Collage fehle die Tragik einzelner Stücke, aber Theater bedeutet immer auch Spielen mit Möglichkeiten. Obwohl in «Macbeth» oder «Romeo und Julia» kein anderes als ein tragisches Ende denkbar ist, wird in der Collage das Potenzial der Personenmischung für ein Happy End genutzt.
Hervorragendes Ensemble
Es ist unmöglich, die Leistung aller Einzeln zu würdigen. Die Vielfalt der Charaktere, die Spielfreude, die Körperbeherrschung sowie die Textsicherheit machen den Charme dieser Aufführung aus. So ist Sangita Singh als vorlaute Amme praktisch ein fleischgewordener Running Gag. Ein Bühnenschwergewicht ist Lukas Hayoz als jovialer, harmoniebedürftiger König mit seinem Mantra «Komm an mein Herz!» Flurina Eckinger läuft als Lady Macbeth zu Höchstform auf. Aber auch alle anderen Mitspielenden verkörpern ihre Rolle glaubwürdig. Am meisten Heiterkeit vermochte die Theatertruppe aus «Ein Sommernachtstraum» auszulösen. «Pyramus und Thispe» ist ein Theater im Theater. Urkomisch spielt darin Orell Semmelroggen als Flaut die Rolle der Thispe mit gequetscht hoher Stimme. Ein Brüller! «Shakespeare’s Night», dessen Programmheft ebenfalls vorbildlich gestaltet ist, sei wärmstens empfohlen.
Junge Bühne Dornach: «Shakespeare’s Night», Goetheanum, Grundsteinsaal, 6. und 7. September, 19.30 Uhr; 8. September, 16 Uhr; 20. und 21. September, 19.30 Uhr; 22. September, 16 Uhr (Derniere).
www.junge-buehne.ch